Papa vermisst
30. Dezember: Papa und ich sind seit Weihnachten bei Omi und meiner Tante in Wien zu Besuch. Für mich sind die Wien-Besuche in den Schulferien immer wunderbare Momente, um dem Wahnsinn von Daheim zu entfliehen. Endlich keine Sorgen und Ängste, dass irgendwelche Katastrophen passieren könnten oder ich mich um die Alkohol-Rückfälle meines Vaters kümmern müsste. Papa hat vor einigen Monaten eine Frau kennengelernt. Mal sind sie zusammen und dann wieder nicht. Für Nachmittag haben sie wieder einmal ein letztes Treffen vereinbart. Am frühen Abend hat sich Papa bei meiner Omi telefonisch gemeldet und gemeint er würde bei Eva übernachten und erst morgen heim kommen.
Unverständnis und Wahrheit
Silvester: Es ist schon gegen Mittag und Papa ist noch immer nicht daheim. Langsam macht sich etwas Unruhe bei meiner Omi und Tante breit. Es wird geflüstert und auch laut diskutiert. Unverständnis und Vorwürfe fallen, plötzlich wird Papa nicht mehr als der Schuldlose dargestellt. Er dürfte also doch nicht so fehlerlos sein, wie ihn Omi gerne darstellt. Ich kenne Papa und weiß über seine Alkohol-Eskapaden bescheid. Aber während der Wienbesuche konnte ich mich an solche gar nicht erinnern. Wenn Omi da war, dann war Papa stets fromm wie ein Lamm.
Es wird immer später. An Tagen wie Silvester war Papa trotz seiner Trinkerei immer da und bemühte sich zumindest den Schein zu wahren. Die Angst wächst in mir. Verzweifelt warten wir, aber nichts von ihm zu hören.
Polizei fährt vor
Alle versuchen irgendwie gute Stimmung an Silvester zu zeigen. Aber Papa war nicht da und die Angst wuchs ins Endlose. Es könnte etwas Tragisches passiert sein. Es war gegen 22 Uhr als die Polizei mit Blaulicht beim Haus vor fuhr. Mir stockt der Atem. Kommt jetzt das Unerträgliche? Ist Papa tot? Ehe wir ganz beim Fenster stehen, fährt die Polizei aber wieder weiter. Vermutlich Fehlalarm. Panik schlägt durch jede einzelne Zelle in meinem Körper. Ich fühle mich gerade völlig hilflos und male mir aus, was wäre, wenn ich Papa nie wieder sehen würde.
Papa tot?
Hektisch beginnen Omi und meine Tante mit Notaufnahmen der Wiener Krankenhäuser und Polizeistellen zu telefonieren. Null Infos, bei denen gibt es auch keine Hinweise auf Papa. Bei all seiner Unzuverlässigkeit, aber er würde uns doch nie so im Unklaren lassen. Da muss was Schlimmes passiert sein. Telefonieren, weinen, zwanghaftes Lächeln und Mut machen. Omi und meine Tante versuchen mir, in ihrer eigenen verzweifelten Lage, Trost und etwas Zuversicht zu geben. Dieses Gefühl der tiefen Traurigkeit, jetzt vielleicht auch noch von Papa verlassen zu werden, ist schlimm.
Mitternachts stoßen wir an und wünschen uns ein Gutes Neues Jahre! Wie auch immer, ich glaube nicht, egal was nun wirklich mit Papa passiert ist, das ich ihm das je verzeihen kann.
Tiefster seelischer Schmerz
Morgens/Neujahr: Nichts Neues. Der Gedanke kommt auf, wenn Papa nun nie wieder kommt, wie wäre das? Ja, ich könnte dann zu Mama ziehen. Das hätte was, fühlt sich schön und befreiend an. Aber was ist dann mit Omi. Sie hängt doch so an ihrem Sohn, meinem Papa. Er ist ihr Ein und Alles. Das könnte sie nie ertragen. Und Omi mag Mama nicht. Sie passte ja nie in die Familie. Nein, ich darf solche Gedanken nicht haben. Obwohl, Papa ist knapp zwei Tage vermisst. Keine Reaktion von ihm. Er muss tot sein oder irgendwo handlungsunfähig liegen. Sonst würde er sich melden. Das ist diesmal aber sicher nicht meine Schuld. Was auch immer passiert ist. Wer je einen nahestehenden Menschen verloren hat, der weiß, wie tief der Schmerz sitzt, wenn du ihn nie wieder sehen und spüren darfst. Diese Gefühl hab ich gerade in mir und die große Ungewissheit was da jetzt noch kommt.
Rückkehr und der innerliche Tod
Abends/Neujahr: Keine Ahnung was dann irgendwann und irgendwie nach endlosen Telefonaten passierte. Endlich ein Lebenszeichen von Papa. Umgehend fahren wir alle zu einem Gasthof, indem wir Papa völlig betrunken und heruntergekommen bei seiner Freundin auffinden. Wilde Vorwürfe meiner Omi in Richtung Papas Freundin. Sie waren dort seit zwei Tagen untergebracht und feierten Silvester, ohne uns zu informieren. Papa ist stockbetrunken, kann nicht gehen und reden. Seine Kleidung ist dreckig und durchnässt. Das ist nicht der Mittelschule-Lehrer, der Klavier-Virtuose, der liebevolle Vater oder der angesehene Bürger einer kleinen spießigen Provinzstadt. Nein, es ist ein Mensch, ein Alkoholiker, ja mein Vater, den ich gut kenne, den ich so sehr liebe, von dem ich so gerne viel mehr Anerkennung bekäme, den ich aber gleichzeitig auch zutiefst verachte. So leid mir das tut. Innerlich ist heute wieder ein Teil in mir gestorben.
Was tun?
Alkohol und Gewalt sind tägliche, zu oft totgeschwiegene Tabuthemen. Kaum eine Betroffene Person redet gerne und offen darüber. Alkohol enthemmt und ist die Hauptursache und der letzte Auslöser für Übergriffe gegenüber Kindern, Frauen und insgesamt dem Umfeld. Auch wenn Alkoholismus als Krankheit anerkannt wird, so dürfen die schlimmen Handlungen niemals gerechtfertigt werden. Etwas zu verstehen, heißt nicht es als gut anzusehen. Auch die eigenen traumatischen Erfahrungen rechtfertigen es niemals, sein Verhalten am Umfeld auszuleben.
Gerade Kinder, Jugendliche und Frauen durchleben traumatische Ereignisse und zu lange Phasen der völligen Resignation. Es ist wichtig da zu sein und Halt zu geben. Es ist wichtig, sich an eine Vertrauensperson zu wenden. Es ist wichtig sich Unterstützung zu holen und sich im Idealfall an entsprechende Organisationen und geschulte, erfahrene Beraterinnen/Berater zu wenden. Es gibt in der jeweiligen Umgebung gute Beratungs- und Notrufstellen für Frauen, als auch Kinder & Jugendliche. (zB. Frauenberatungsstelle Leibnitz: 0677 644 98 325, kids-hotline: 0800 234 123). Reden entlastet als „ErsteHilfe“.
Fortsetzung folgt!
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